Von der Kraft der Verzweiflung

Ich war gestern im Kino: „Die Augen des Wegs“. In diesem Film geht es letztlich um die Frage: wie geht es weiter? Können wir Menschen einen Weg finden, wieder mit der Natur in Kontakt zu treten? Denn ohne diesen Kontakt sind wir verloren.

Der Film zeigt in erschütternder Klarheit, was wir verloren haben, als wir begannen an „Fortschritt“ und Moderne zu glauben. Er spielt zwar in den Anden in Peru, zeigt aber viel universeller, was uns allen fehlt. Unser Bezug zur Natur ging verloren, unser Gefühl, unsere Fähigkeit zu hören, zu sehen, zu fühlen. Mensch zu sein. Vielleicht sind wir auch einfach alle verblendet von einem Versprechen, das uns „immer mehr“ verspricht. Oder die Kirche hat damals, als wir noch in den Wäldern lebten, alles, was wir an Naturbeziehung hatten, so erfolgreich aus uns heraus gepresst, dass nichts mehr übrig ist.

Das kann verzweifelt machen. Ich habe aber auch Hoffnung. Denn ich glaube nicht, dass das verloren ist, ich glaube es ist nur verschüttet. Wenn wir alle es schaffen würden, uns leer zu machen, unsere Köpfe abzuschalten und unsere Herzen wieder zu hören, dann würde das alte Wissen wieder klar und lebendig, unsere Intuituion und unser Wissen, mit allem verbunden zu sein.

Wir brauchen dafür nur Zeit, und Raum. Diese Zeit zu finden, in einer Welt, die diejenigen belohnt, die am besten funktionieren und rattern können, ist gar nicht so leicht. Und, naja, wenn man in dieser Zeit erstmal durch die Verzweiflung hindurch muss, zu sehen und zu hören, was gerade passiert, worauf wir zusteuern, dann ist es vielleicht auch angenehmer, all das weg zu drücken und einfach weiter zu funktionieren.

Menschliche Handlungen haben eine Richtung. Wir leben im Fluss, handeln auf bestimmte Ziele hin. Mir scheint, wir haben ein bisschen vergessen, worauf wir eigentlich zusteuern. Wir rennen und rennen, auf einer betonnierten Straße, immer weiter und immer schneller, nur weiß niemand mehr so richtig, wohin und warum. Und doch rennen alle mit, vielleicht weil wir nicht allein sein wollen, oder weil uns jemand gesagt hat, dass es da hinten noch schöner ist, oder besser. Oder weil wir in all dem Wirrwar gar nicht mehrs ehen, wo der Weg eigentlich ist. Aber wenn alles auf irgendetwas zusteuert, und wir uns vom Leben losgesagt haben, dann ist klar, worauf das Funktionieren und das Rattern ausgerichtet ist. Wir begünstigen dann Dinge, die wir nicht sehen können, machen einfach, blind, ohne Ziel. Und fahren gegen die Wand.

Ich lese in der Zeitung immer wieder: wir müssen mehr arbeiten, um den Standard zu halten, den wir gerade leben. Gerade heute habe ich im Tagblatt wieder sowas gelesen, da war die Rede davon, dass man dennoch darauf achten soll, dass der „Verschleiß“ nicht zu groß ist.

Der Verschleiß? Diese Sichtweise degradiert Menschen zu Teilchen in Systemen, die eben verschleißen können. Und um sie nicht zu sehr abzunutzen, muss man sie schonen.

Wenn dieses Leben und dieser Standard so erstrebenswert ist, warum gibt es dann so viele ausgebrannte Menschen? Warum fühlen wir uns alle so leer? Ich denke, uns fehlt der Sinn, die geistige, seelische Nahrung in diesem rastlos weiter jagenden System. Jemand hat mal zu mir gesagt: wenn du einen Sinn willst, dann such dir einen. Ich glaube nicht, dass wir uns den Sinn suchen können. Denn Spiritualität ist kein Jahrmarkt, in dem man sich einfach bedienen kann. Ich glaube vielmehr, dass der Sinn im Leben selbst liegt. Wir müssen nur lernen, wieder zu sehen, zu fühlen, zu sein. Lebendig zu sein.

Unser Fortschrittsdenken steht heute vor einer Wand. Alles um uns herum ist zubetonniert, wir haben alles, was man nur besitzen kann, und doch fühlen wir nichts, können nichts hören und nichts sehen, weil wir beständig auf einen Mangel, auf das, was uns noch fehlt, ausgerichtet sind.

Es ist also allerhöchste Zeit, uns wieder darauf zu besinnen, was wir sind.

Wir sind Teil des Lebens. Wir sind keine Maschinen. Wir sind nicht hier, um in Systemen zu funktionieren, sondern wir sind hier, um zu leben. Um viele kleine Handgriffe zu tun, die das Leben stärken. In uns und um uns. Dafür müssen wir das Leben fühlen, denn wir sind immer auch Teil unserer Umgebung und stehen in Resonanz mit unserem Umfeld. Also brauchen wir Sein in der Natur, zuhören, wie das Wasser plätschert, um das Wasser in uns selbst zu fühlen, sehen, wie die Bäume wachsen, um zu sehen wie wachsen geht. Steinen zuhören, um zu hören wie Stille geht.

Wir können gehen. Und mit unseren Füßen die Erde fühlen. Wir können sehen, Leben sehen, wir können fühlen, Leben fühlen. Und wir können Leben sein. Dafür sind wir hier.

Klar, wir können nicht alle in die Berge ziehen, um wieder zu Bauern zu werden. Aber wir können uns eingestehen, dass wir mit unserem wissenschaftlichen Denken nicht alles wissen. Wir können uns umschauen und nach anderen Lebensweisen suchen. Wir können uns bei unseren vielen kleinen Wegen fragen: wo gehe ich hin? Begünstige ich das Leben oder das Rattern, Funktionieren, also den Tod?

Wir stecken alle in Systemen. Das ist völlig klar. Aber vielleicht kann man in diesen betonnierten Systemen kleine Impulse setzen. All unsere kleinen Handlungen können sein wie der Löwenzahn, der sich durch den Beton schiebt. Wenn es genug Löwenzahn ist, wird der Beton irgendwann löchrig, porös, unser totes Denken wird belebt.

Das Leben ist spontan. Es passiert, es hält sich an keine Uhr und folgt nur dem was ist. So sind all unsere spontanen Gesten, und seien sie noch so klein, Ausdruck des Lebens.

So könnte Verzweiflung zur treibenden Kraft werden, die endlich einen längst anstehenden Wandel in Gang setzt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert