Schlage ich dieser Tage die Zeitungen auf, könnte ich schier verzweifeln. Es macht mich niedergeschlagen, in welchen Nebenschauplätzen wir Menschen uns verzetteln, welche Kriege wegen irgendwelcher Landesgrenzen geführt werden, und wieviel wir daran setzen, in der KI weiter zu kommen, während die alleroberste Priorität in den Hintergrund rückt: unsere Heimat Erde zu erhalten.
Ich habe neulich ein Interview mit der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev gelesen, die sagt, sie wünsche sich, dass eines Tages die Grenzen nicht zwischen Religionen verlaufen, sondern zwischen den Radikalen, die für ihre Ideen töten, und denen, die das Leben wollen.
Die Mutter allen Lebens ist kein blinkendes Gerät, was dauernd um Aufmerksamkeit ringt. Die Erde glitzert und glänzt auch nicht. Kennt ihr den Satz „Gott vollbringt keine großen Wunder, denn er will die Menschen nicht verführen“? Die Erde vollbringt keine großen Wunder. Sie schreit auch nicht, oder schlägt mit irgendetwas um sich, wenn sie aus dem Gleichgewicht gerät. Sie ist einfach da, und dreht sich weiter und weiter, während wir auf ihr kämpfen und toben.
Und wie das so ist, mit den Dingen, die einfach nur da sind – sie rücken erst dann in unsere Wahrnehmung, wenn sie bedroht sind. Die Erde ist bedroht – aber man kann das gut ausblenden. Und es gibt ja so viele andere wichtige Themen.
Ich durfte gestern für die Uni ein Referat halten zum Thema: Gaia. Eine Philosophin, die sich mit der wissenschaftlichen Theorie dazu befasst hat, Mary Midgley, hält sie für die nächste große prägende Idee nach der Aufklärung. Und in ihr spiegelt sich vieles, was sogenannte Naturvölker schon lange wissen, wir auch mal wussten, aber scheinbar ein bisschen vergessen haben.
James Lovelock, ein NASA-Mitarbeiter, fragte sich in den 60er Jahren, was eigentlich eine lebendige Atmosphäre von einer toten unterscheidet. Er untersuchte die Erdatmosphäre, Mars, Venus und Mond, und fand heraus, dass die Atmosphäre auf den toten Planeten aus Kohlenstoff besteht, ein Gas, was jede chemische Reaktion unmöglich macht. Sie haben eine statische Atmosphäre. Auf der Erde hingegen herrscht ein buntes Gemisch an Gasen, das ziemlich bewegt ist und nicht im Gleichgewicht, jedoch in der Zusammensetzung seit Jahrmillionen konstant. Irgendwann hat also das Leben auf der Erde (in Form von Pflanzen) begonnen, Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu binden, und somit Sauerstoff entstehen lassen. Und über einen großen Zeitraum ist eine Atmosphäre entstanden, die Leben ermöglicht! Und vor allem: Leben erhält. Das bedeutet, das Leben hat sich selbst die Konditionen geschaffen, die es braucht, um weiterhin zu existieren. Die gesamte Erde ist also ein System, das sich selbst aufrecht erhält und reguliert.
Hannah Arendt beschreibt in ihrem Text „Vita Activa“, wie die Menschen seit Jahrzehnten (sie schreibt das in den 60er Jahren) nichts wollten als Freiheit. Freiheit in einem negativen Sinne als Freiheit von allem (statt Freiheit zu etwas, was als positive Freiheit zu bezeichnen wäre). Die westlich geprägte Menschheit erscheint mir manchmal wie ein Teenager, der einfach nur weg will – weg von seiner Familie (den Tieren, Pflanzen), weg von seiner Mutter (der Erde). Nicht umsonst fließt viel von unserer Energie dahinein, andere Planeten zu erforschen, zum Mond zu fliegen oder sonstwohin. Unsere persönliche „individuelle Freiheit“ geht uns über alles – die geben wir nicht so schnell auf.
Und wie eine Mutter ist die Erde vor allem eins: einfach da. Und weil sie so selbstverständlich da ist, sehen wir sie gar nicht mehr. Midgley schreibt in ihrem Text von „duties to wholes of whom one is a part of“. Und zwar nicht im Sinne von Pflichten wie „du sollst“, sondern eher Pflichten im Sinne von gefühlten Zugehörigkeiten zu großen Ganzen wie Familien, die wir eben schützen, wenn sie bedroht sind. Einfach aus diesem Zugehörigkeitsgefühl heraus.
Wir haben dieses Gefühl der Erde gegenüber vergessen. Wir leben in abgetrennten Welten, in abgetrennten Gedankenstrukturen, die uns vom Rest der Welt trennen. Dabei brauchen wir nur einmal tief zu atmen, schon wissen wir, wie existentiell und unübersehrbar die Verbindung zur Erde für uns ist – ohne Sauerstoff kommen wir nicht lang über die Runden.
Vielleicht ist es an der Zeit, unseren höchsten Wert noch einmal zu überdenken. Die individuelle Freiheit ist wichtig. Aber da, wo bereits Konzerne als individuelle Einheiten mit individuellen Rechten und Freiheiten gelten (vgl. Midgley 2001), sollte man hinterfragen, ob uns nicht doch das Leben wichtiger ist, als diese so unendlich wichtige Freiheit.
Vielleicht könnten wir auch die Freiheit der Zugehörigkeit unterordnen. Wir sind alle Teil dieser wunderbaren, zauberhaften, bedrohten und schützenswerten Erde. Und haben als Menschen eine spezielle Verantwortung – denn wer außer uns könnte dieses System wieder ins Gleichgewicht bringen? Wenn wir es nicht tun, tut es die Erde im Zweifel allein. Dann müssen wir vor dem Hintergrund eines Systems, das auf Leben ausgerichtet ist, aber damit rechnen, dass wir als schädliche Spezies vom System aussortiert werden – einfach weil der Mensch ein sehr sensibles Wesen ist, für das schon kleinere klimatische Veränderungen bedrohlich sind.
Midgley sagt, dass wir das Gefühl der Zugehörigkeit nur zulassen müssen. Es war immer da, genauso wie wir eigentlich fühlen, dass es falsch ist, einen Regenwald abzuholzen oder dass es falsch ist, Leben zu zerstören. Nur unser abgetrenntes Denken, mit dem wir gelernt haben die Welt zu trennen in „mein“, „dein“, Körper, Seele, Vernunft, Gefühl, hält uns davon ab, diese Zugehörigkeit zu fühlen.
Denn wenn wir das wieder fühlen können (so meine Prognose): das Sein, das Atmen, die Dankbarkeit, hier sein zu dürfen, die Ehrfurcht vor diesem Wunder Leben, das sich vor unserer Nase befindet, dann werden wir auch ohne zu zögern Kompromisse eingehen. Dann werden wir uns ohne Hadern beschränken, auf das was wir wirklich brauchen, im Angesicht unserer von uns selbst bedrohten Heimat Erde.
Bildquelle:
https://duckduckgo.com/?q=erde+bild&t=newext&atb=v296-1&iax=images&ia=images&iai=https%3A%2F%2Fa-static.besthdwallpaper.com%2Ferde-aus-dem-weltraum-tapete-2560×1600-12522_7.jpg
Hallo Raphi, danke für die Denkanstösse.
Ich habe auch erlebt, wie die Haltung der Menschen auf die Natur wirkt.
Liebevolle Zuwendung, Achtung der Natur gegenüber, aber auch Musik, Kunst, konstruktives Miteinander scheint die umgebende Natur zu spüren.