„Stell‘ dir vor, du wärst ein Stein im Meer“, so beginnt ein wunderschönes Lied der Band Bukahara. Sie besingen in diesem Lied die Ruhe des Meeresgrundes, auf dem endlich „alles so ist, wie es schon immer war“, und was oben auf der Erde passiert, „wär‘ dir egal“.
Thema des Liedes ist aus meiner Sicht der Wunsch des Menschen, dass endlich mal alles bleibt wie es ist. Dass man sich nicht mehr kümmern muss, und man endlich seine Ruhe hat, dass sich nicht ständig alles ändert, vielleicht auch die Sehnsucht nach Halt in einer Welt, die sich in stetigem Wandel befindet, die Unbeweglichkeit, die wir in Sachen Verhaltensänderung bezüglich des Klimawandels an den Tag legen.
In meinem Pfingsturlaub an der Ostsee haben mich die „Steine im Meer“ sehr beeindruckt, und ich habe lange gebraucht, in Worte fassen zu können, was genau mich da so berührt hat.
Die Wellen strömen heran, brechen sich über einem Strand voller Kiesel. Große, kleine, runde, abgeschliffene Steine. Quarze, also eher ein Gestein, das wir dem Gebirge zuordnen würden, liegen neben Donnerkeilen, einem Überbleibsel von Urtieren aus einer uralten Zeit aus einem Urmeer. Es gab auch versteinerte Seeigel und wunderschön faserige, durchscheinende Ostseejade in rosé und meergrün. Und das ist nur ein Bruchteil dessen, was da am Strand in der Dünung durcheinander gewirbelt wurde. Steine, die aus anderen Zeiten stammen, durch die Zeit hindurch bestehen, von fernen Orten an diesen Strand geschwemmt wurden, und auch hier nicht zur Ruhe kommen. Das Wasser wäscht weiter an ihnen, die Zeit schmirgelt sie runder, glatter, kleiner, bis sie irgendwann zu Sand werden.
Letztes Wochenenende war ich im Gebirge. Ein Wochenende voller Wind in den Föhren, Pappelblätterwinken, feinen leichten Wolken in steinernen Geröllabhängen und Sonnenstrahlen auf grünen Gebirstälern, die von Bergbächen durchzogen waren. Leichtes und Schweres, Hartes und Weiches ganz nah beieinander, ja, im Zusammenspiel. Und dann diese Berspitzen und Höhenkämme, die dem Wanderer, dem Urlauber sowie dem Einwohner fester Halt und Orientierung sind.
Und ich dachte an die Steine, die im Meer über- und untereinander gewirbelt werden, und erinnerte mich daran, dass all dies nicht von ewiger Dauer ist. Alles ist im Wandel. Nichts bleibt für immer.
Was macht man als Mensch, der Halt sucht, in so einer Welt? Juli Zeh schreibt in ihrem Roman „Über Menschen“ sinngemäß über die große Zumutung, die es darstellt, dass ein Wesen wie der Mensch mit einem solchen Bewusstsein ausgestattet ist, während er dabei zusehen muss, wie um ihn herum alles sich wandelt. Menschen kommen und gehen und das eigene Ende irgendwann und das der Mitmenschen, der Angehörigen, ist mehr oder weniger teil dieses Bewusstseins.
Wir sind wie Steine im Meer, hin- und hergeschaukelt vom ewigen Sein des Lebens, von der Strömung und der Zeit. Mal wirbelt es uns hoch, dann wieder herunter, wir werden vom Leben geschliffen und gerieben. Manchmal schimmern wir wie ein Edelstein durchscheinend, und glitzern im Sonnenlicht, dann wieder legt sich eine dicke Schicht Kalk um uns herum, wir werden weiter gewirbelt. Und manchmal liegen wir vielleicht für eine Zeit am Grund, in Ruhe, bis es Zeit ist, weiter zu treiben.
Der Unterschied ist, dass wir diesen Prozess sehend mitmachen. Dass wir dem Wasser wenigstens ein stückweit Staumauern bauen können, zum Schutz gegen die Gezeiten. Dass wir vielleicht selbst Teile des Wassers sind und der Strömung.
Doch nichts auf der ganzen Welt wird das Leben davon abhalten, an uns zu schleifen, uns empor- und wieder hinunter zu spülen. Nichts kann die Veränderung aufhalten, denn selbst wenn wir versuchen, irgendetwas zu halten, haben wir all das nicht in der Hand.
Vielleicht täte der Welt ein bisschen mehr Steinsein ganz gut. Sich wirbeln lassen, sich der Veränderung und dem Geschliffenwerden hingeben. In den Dingen, die wir nicht ändern können. Natürlich im Rahmen, den das Bewusstsein um die Kostbarkeit der kleinen Augenblicke und dieser zerbrechlichen Welt zulässt. Und in dem Bewusstsein, dass wir selbst teil der Strömung sind, dass wir handelnde Wesen sind, deren Handlungen Auswirkungen auf unsere Umwelt und unseren Planeten haben.
Denn wenn eins zählt, in all diesem Gewirbel und Geschliffenwerden und Emporgehobensein und Hinabsteigen in die Täler des Lebens, dann ist es genau dies: der Augenblick. Das Da-Sein, in dem, was gerade ist.
Hannah Arendt schreibt in ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ vom menschlichen Handeln, das sie gleichsetzt mit der Fähigkeit „Wunder zu vollbringen“. Denn wir sind eben nicht unbewusste Steine, sondern uns ist in jedem Moment unseres Lebens ist die Fähigkeit gegeben, selbst zu handeln und gleichzeitig neu zu beginnen. Denn der „Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen.“ (Hannah Arendt: EU S. 752). Wir müssen nur wach genug sein, den Anfang und seine Kontinuität zu sehen.
Vielleicht können wir auch, statt uns zu wünschen, am Meeresgrund zu liegen und endlich unsere Ruhe zu haben, in diesem Treiben der Welt unsere Augen offen halten für diese kleinen Zipfel, die kleinen Anfänge und kleinen Neubeginne, die uns weiter führen. Denn wir können selber Wasser sein und Strömung – zumindest ein bisschen. Und vielleicht können wir dann als Gesellschaft auch Neubeginne finden, die uns diese wunderbare Erde in all ihrem Zauber noch lange erhalten lassen – in all ihrer Wandelbarkeit und Veränderung und unvergleichlichen Schönheit.