Von Menschen in Systemen

Ein Seminar, irgendwo in der Welt (oder Tübingen;)), das Thema ist Klimagerechtigkeit. Jemand versucht eine Situation zu beschreiben, in der es unglaublich heiß war, und die Kinder waren nicht mehr in der Lage zu denken. Jemand sagt: „es hatte an die 50 Grad, und die Kinder waren nicht mehr in der Lage zu funktionieren.“

Ich weiß, dass der Satz nicht böse gemeint war. Es war einer dieser Sätze, die in irgendeinem Kontext einfach so fallen, hinter denen weder böse Absicht steckt, noch irgendeine dezidierte, fundierte Meinung. Aber genau deswegen halte ich solche Sätze für wichtig. Weil sie nämlich genau das zum Ausdruck bringen, was unseren Handlungsweisen, und somit unseren gesellschaftlichen Strukturen zugrunde liegt: eine gewisse Denkweise. Denkweisen prägen unser Handeln, und wie wir handeln, so wird die Welt.

Versteht mich nicht falsch. Ich möchte niemanden für sein Denken kritisieren. Ich möchte nur offenlegen, was ich beobachte, hinweisen auf diese kleinen Selbstverständlichkeiten, die unseren ganzen Systemen letztlich zugrunde liegen. Ein Denken, von dem ich mich nicht ausnehmen möchte: auch ich habe so einen Satz mal gesagt. Dass meine Kinder „einfach nicht funktionieren“.

Ich denke, unserer Gesellschaft liegt ein bestimmtes Menschenbild zugrunde, das dringend überholungsbedürftig ist. Denn im Gegensatz zu all den technischen Geräten, mit denen wir uns umgeben, sind wir keine Dinge, die einfach funktionieren, wenn man den richtigen Knopf drückt. Das ist Ausbeutungslogik – eine Logik, die unsere Geschichte prägt, und uns dort hin gebracht hat, wo wir jetzt stehen. Aus dieser Ausbeutungslogik folgt, dass wir uns selbst als Leistungswesen sehen – wie können wir den Menschen beziehungsweise uns selbst in die Lage versetzen, möglichst viel Leistung zu erbringen? Meiner Ansicht nach folgt auch der Diskurs um „Resilienz“, der gerade hoch im Kurs ist, dieser Logik: wie können wir die Menschen besser stärken, um sie weiter so belasten zu können, wie wir es bisher tun? Damit sie noch länger arbeiten können, ja, funktionieren?

Ich denke, wir müssen umdenken. Wir sind keine Ressource, wir sind auch keine reinen Leistungserbringer. Wir sind denkende, fühlende Wesen, die eine Welt gestalten können. Und wollen! Wir brauchen dafür nur Zeit. Wir brauchen Zeit, um heraus zu finden, wie wir leben wollen. Wir brauchen Zeiten und Räume, um zusammen zu kommen und gemeinsam einen Diskurs darüber zu schaffen, in welcher Welt wir leben wollen. Eine Welt, aus die wir handelnd einwirken, und zwar massiv! Meiner Ansicht nach gibt es diese Zeiten und Räume nicht, man muss sie sich erkämpfen.

Das alte Menschenbild wird gerade langsam abgelöst. An die Stelle des funktionierenden Rädchens im Getriebe tritt das Bild eines Menschen als sensibles System von komplexen Abläufen, die es im Gleichgewicht zu halten gilt. Ein Gleichgewicht, das nur jeder und jede selbst für sich finden kann – denn nur Ich selbst weiß, wieviel von was ich brauche, um im Gleichgewicht zu sein. Denn das Gleichgewicht ist nichts, was man von außen herstellen kann oder was ich mir ausdenken kann, sondern etwas, was ich nur – und nur Ich – fühle. Von innen heraus.

So gesehen beinhaltet Macht von Systemen letztlich immer auch Menschen, die Macht abgeben. Menschen, die Verantwortung abgeben für komplexe Systeme, die sie nicht mehr verstehen.

Vielleicht müssen wir uns das Verständnis unserer Welt aber auch erstmal wieder erarbeiten. Ein Verständnis der Welt, aber auch von uns selbst in dieser Welt. Bruno Latour betont die Methode des „Beschreibens“: um etwas zu verändern, müssen wir erstmal verstehen, wo und wie wir sind. Das bedeutet auch: verstehen, warum ich wie auf was reagiere. Verstehen, warum ich mich an manchen Stellen selbst verleugne, verbiege, um irgendwie mitzuhalten, um nicht „zurück zu bleiben“ in dieser Fortschrittserzählung, die wir uns so lange erzählt haben.

Auch dafür brauchen wir Zeit.

Und dann, wenn wir uns selbst besser verstehen können, können wir anfangen, unsere „Territorien“ (Begriff entlehnt von Latour) kennenzulernen. Wir müssen versuchen, zu verstehen, was es bedeutet, eine Erde zu bewohnen, die auf unser Handeln reagiert (siehe Latour: Zur Entstehung einer ökologischen Klasse). Ganz praktisch: unsere Landschaft, in die wir hinein gebettet sind. Denn auch die uns umgebende Welt ist ein feines, komplexes System, das angewiesen ist auf ein Gleichgewicht, das bereits existiert und sich ständig neu ausbalanciert – wenn wir es nur lassen. Da wir aber so massiv auf unsere Umgebung einwirken, sind wir nun in der Verantwortung, dieses Gleichgewicht irgendwie wieder her zu stellen. Voraus gesetzt, wir wollen noch ein bisschen hier bleiben.

Latour schlägt hier einen Wandel vor, der sich zunächst in unserem Denken vollziehen muss – eine Neudefinition bestimmter Begriffe. Wir müssen neu definieren, was „Fortschritt“ bedeutet, was als „fortschrittlich“ oder „modern“ gilt. Wir müssen, statt immer weiter zu rennen in eine Richtung, die wir uns irgendwann mal schön gedacht haben, inne halten. Hinschauen. Versuchen zu sehen was ist, statt unseren Vorstellungen, wie die Welt noch besser sein könnte, hinterher zu rennen. Denn vieles ist schon da – angefangen bei unseren wunderbaren Körpern, die sich selbst im Gleichgewicht halten, wenn wir uns nur darauf einlassen – und das Funktionieren in irgendwelchen Systemen nicht über alles stellen.

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