Ich habe in meinem Kopf ein kleines System. Ein fest gefügtes, kleines Weltbild. Und sobald ich etwas sehe, höre oder wahrnehme, versucht mein Kopf das Wahrgenommene in dieses kleine System einzuordnen. Aber nicht nur bei Wahrnehmungen schaltet sich dieses kleine:“Ich-weiß-wie-alles-ist“ ein, nein, auch bei Dingen, die ich mir vornehme. Nehmen wir als Bespiel eine kleine Reise. Ich plane, über ein Wochenende irgendwohin zu fahren. Sogleich malt mein Kopf ein Bild, wie es werden könnte, entweder total schön, oder ganz schrecklich. Wie es wird, weiß ich natürlich nicht, das „Ich-weiß-wie-alles-ist“ macht mir aber auf trügerische Weise vor, es wüsste alles und könnte durch diese Bilder auf magische Weise für Sicherheit in meinem Leben sorgen.
In einem Seminar durfte ich neulich den Begriff des Kompositionismus, ins Leben gerufen von Bruno Latour, vorstellen. Er schildert in seinem „Manifest für den Kompositionismus“ die Leblosigkeit und Unangemessenheit einer Politik, die mit immer den gleichen Instrumenten auf alles reagiert. Ist zu wenig Geld da, wird halt Geld irgendwohin geschüttet. Fehlt es an Fachkräften, dann macht man eben eine Kampagne, oder übt Druck aus. Für Latour besteht dieses System aus einem Missverhältnis, das aus Unverständnis von zwei Seiten herrührt: „Die oben“, also diejenigen, die die Dinge entscheiden, können nicht verstehen, was „die unten“ (die Bevölkerung) sagen. Und „die unten“ können nicht formulieren, was sie brauchen. Zugespitzte Entfremdung, wie auch Marx sie schon ausgeführt hat. Jedoch schildert Latour auch in den Versuchen, zusammen zu kommen, eine Komponente, die wahre Kommunikation erschwert – nämlich die all diesen Versuchen zugrunde liegende Annahme, wir müssten nur alle Meinungsverschiedenheiten beseitigen, dann würde die unter allem schlummernde Einigkeit zutage treten. Als müssten wir nur den Schleier alles Trennenden zur Seite ziehen, und dahinter käme die Einigkeit, die eh schon da ist, zutage. Als wäre die gemeinsame Welt schon da, wir müssten nur das uns Trennende beseitigen.
Latour sagt: Es gibt keine gemeinsame Welt. Wir leben alle in radikal voneinander getrennten Welten, es gibt keine Gemeinsamkeit, die nur aufgedeckt werden muss, sondern wir müssen diese radikale Andersheit der verschiedenen Welten akzeptieren. Erst wenn wir sehen, in welch unterschiedlichen Welten wir leben, jeder für sich, können wir eine gemeinsame Welt bauen. Denn diese ist nichts, was wir auf wundersame Weise enthüllen können, nichts, was eh schon da ist, sondern etwas, was wir gemeinsam bauen, erschaffen, verhandeln müssen.
Latour nennt das Kompositionismus. Statt immer mehr Vorhänge weg zu ziehen, um ein mysteriöses Dahinter zu erkennen (das geht vor allem auf Kants Trennung der Welt in eine Welt der Erscheinung und eine dahinter vorhandene „reale“ Welt zurück), müssen wir anfangen, zusammen zu fügen. Sorge zu tragen. Zusammen zu setzen, zu komponieren. Und das in dem Wissen, dass es nichts gibt, auf das ein immer gleiches Modell passt, sondern dass alles radikal unterschiedlich ist. Dass jede Situation anders ist, und andere Instrumente braucht.
Mit diesem Wissen könnte die Politik zum Handwerk werden, zu einer Art „Kunst, zu gestalten“. Natürlich würde das mehr Zeit, mehr Kommunikation in Anspruch nehmen, denn man kann nicht einfach jede Situation mit dem gleichen Instrument „ruhig stellen“. Es würde erstmal den Versuch beinhalten, eine gemeinsame Sprache zu finden, in der wieder Verständigung möglich ist.
Allerdings wäre es vielleicht auf lange Sicht sicher der effektivere Weg.
Ich persönlich versuche immer wieder, mich daran zu erinnern, dass ich nicht weiß, wie die Dinge sind. Dass ich nicht unbedingt weiß, was mein Gegenüber mir zu sagen versucht, sondern genau hinhören muss. Dass ich nicht weiß, wie mein geplantes Wegfahr-Wochenende wird, sondern mich auf die Erfahrung einlassen muss, um zu sehen wie es wird. Öfter mal zu denken:“Ich weiß es nicht“. Und genauer hin zu schauen. Was natürlich im Rausch des Lebens nicht immer gelingt – aber vielleicht reicht es ja erstmal, es immer wieder zu versuchen.