Eine kleine Erzählung – auf das Menschsein!

Ich habe neulich bei einem Kurzgeschichtenwettbewerb eines KI-Instituts in Tübingen mitgemacht. Leider hab ich nicht gewonnen – das Geld hätte ich gut brauchen können ;). Aber ich glaube, meine Geschichte war denen zu technikfeindlich… Sie geht mehr um Menschen, als um KI.

Da ich sie aber zu schön finde, um sie in der Schublade zu lassen und auch, weil ich das Gefühl hatte, sie könnte die Welt um eine kleine schillernde Seifenblase reicher machen, teile ich sie mit euch.

Es gab ein vorgegebenes Eingangsszenario, das ging so:

„Der Krieg der Maschinen gegen die Menschen hat zu verheerenden Folgen und Verlusten auf beiden Seiten geführt. Damit sich ein derartiges Desaster nie mehr wiederholt, wurde in der Nachkriegsordnung ein Projekt zur gegenseitigen Verständigung verankert: Jedes Jahr werden 128 Kleinkinder den Maschinen übergeben, um von ihnen großgezogen zu werden.“

Hier mein Beitrag:

Von Menschen und Maschinen – eine Erzählung

Luca rannte. Er rannte um sein Leben. Ein vierzehnjähriger Junge, in einem hellen Laubwald.

„Weg. Ich – muss – weg.“ Bruchstückhafte Gedanken hämmerten in seinem Kopf. Ein unangenehmes, ihm nur zu vertrautes Gefühl kroch aus seiner Magengegend Richtung Hals und schnürte ihm die Kehle zu. Er hörte nichts als seine stampfenden Füße auf dem Waldboden und um ihn her die lebendige Stille des Waldes.

Einmal am Tag hatten sie Ausgang gehabt. Um Punkt 14 Uhr am Mittag, nach der Mittagsmahlzeit, piepte die große Anzeige im Flur der Anstalt, und die Mittagsbetreuung, eine kleine, freundlich aussehende Roboterin, wiederholte mit ihrer monotonen Stimme die Worte, die sie auch am Tag zuvor und an jedem anderen Tag um die gleiche Zeit wiederholte: „Ausgang! Alle bitte raus an die frische Luft! In fünf Minuten sind alle draußen im Hof.“

Dann waren die Kinder, in Altersgruppen aufgeteilt, hinaus in den Hof gegangen. Sie waren zu Spielen und Bewegung animiert worden, hatten alles getan, was die zwei Bewegungsroboter ihnen gesagt hatten. „Spielt jetzt Fangen“, „Spielt jetzt Verstecken“, „Noch fünf große Runden um den Hof laufen“, dann waren sie wieder hineingegangen.

Der Alltag, vor dem er vor einigen Tagen geflohen war, war streng getaktet gewesen. Alles lief perfekt, es gab keine Zwischenfälle, der Alltag lief nach der Stechuhr. Und die Kinder hatten das gelernt, was die Maschinen ihnen in nahezu perfekter Form vorgelebt hatten: sie funktionierten. Sie waren gut darin, Befehle auszuführen. Und sie waren perfekt darin, Informationen zu bestimmten Themenfeldern herauszufinden und sich zu merken.

So waren sie zu dem geworden, was die Maschinen aus ihnen hatten machen wollen: eine perfekte Synthese zwischen Mensch und Maschine. Sozusagen bessere Menschen, von ihren allzu menschlichen Unzulänglichkeiten bereinigt. Menschen, die nicht zweifelten, nicht zögerten, nicht haderten, ja, Menschen, die nicht durch ihre Gefühle und Leidenschaften zu irgendwelchem Unsinn verleitet wurden. Perfekt funktionierende Wesen mit einer nahezu perfekten Intelligenz.

Nur hatte etwas gefehlt, was Luca nie hatte in Worte fassen können. Tief in sich trug er eine Sehnsucht, ein Ziehen, das ihm an manchen Tagen schier unerträglich schien.

Irgendwann hatte er es nicht mehr ausgehalten. In ihm war so viel keimendes Leben, so viel Gefühl, so viel, was er immerzu unterdrücken musste, um im perfekten Alltag der Maschinen mithalten zu können, dass er irgendwann Angst hatte, zu explodieren, wenn er nicht davon ging. Und so war er gegangen.

Weitgehend unbehelligt, denn die Maschinen hatten berechnet, dass er früher oder später zurückkehren würde. Als menschliches, gewohnheitsgeprägtes Wesen würde er irgendwann seine Heimat vermissen und zurückkommen. Außerdem war er für ein eigenständiges Leben gänzlich ungeeignet.

Plötzlich kam Luca auf eine Lichtung. Es war früh morgens und im Gras funkelten tausende kleiner Taudiamanten. Außer Atem ließ Luca sich auf die Erde sinken.

Eine Weile lag er so da und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Sein Blick war in den Himmel gerichtet und folgte den Wolken, die in kleinen Herden über den Himmel zogen. Sein Scannerblick erfasste schnell ihre Struktur, klein, wattebauschig, und in seinem Kopf wurden sogleich die zugehörigen Daten abgespult: „Cumulus humilis (Cu hum) (lat. ‚schwach, gering‘) sind die kleinsten Vertreter ihrer Art. Es handelt sich um kleine, flockige und meistens großräumig auftretende Schönwetterwolken der Wetterphase 1 (mittleres Schönwetter). Sie entstehen bei relativ schwacher Konvektion und haben deshalb nur eine geringe Höhenausdehnung (600 m bis 1 km).“

Bevor er jedoch weitere Analysen folgen lassen konnte, registrierte sein Gehirn ein Geräusch, Hufgetrappel, das sich vom rechten Ohr her näherte. Er blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Während er noch in seinem Kopf die zum Geräusch passenden Daten aneinanderreihte (Pferd, Pony, Isländer, Stute, mit Reiter), erblickte er zwischen den Bäumen ein Pferd mit einem Reiter. Vielmehr, einer Reiterin, wie er bei deren Herannahen feststellen konnte.

Wieder machte sich dieses Gefühl in ihm breit, für das er keinen Namen hatte. Sein Herz begann heftig zu klopfen. Er sprang auf und wollte schon davonlaufen, da zögerte er. Und trotz aller Angst, die er verspürte, wollten seine Beine nicht laufen. Wie gebannt starrte er auf dieses Wesen.

Das Pferd verlangsamte sein Tempo und blieb schließlich in einigem Abstand vor Luca stehen. Das Mädchen stieg ab und kam langsam auf ihn zu.

„Hallo!“ begrüßte sie ihn. Sein Scannerblick erkannte sie als Mensch, weiblich, ca. 17 Jahre alt und nahm mit fotographischem Blick ihr Aussehen sowie ihre Bewegungen in seinen Fokus.

Sie bewegte sich mit einer sanften Weichheit, die ihm gänzlich unbekannt war, jedoch eine süße, wie tief in ihm schlummernde Erinnerung hervorrief.

„Hallo,“ wiederholte die junge Frau, „wer bist du denn? Und was machst du so früh am Morgen hier im Wald?“ Ihre Stimme hatte Höhen und Tiefen, war weich und plätschernd. Ganz im Gegenteil zu den monotonen Stimmen, die ihm bisher bekannt waren.

Luca wusste nicht recht, wie er reagieren sollte. Für derart unvorhersehbare Ereignisse war in seinem System kein Reaktionsmuster gespeichert. Er versuchte es also mit einem vorsichtigen „Hallo“, ein eher hölzerner Versuch im Gegensatz zu ihrer Weichheit und Lebendigkeit. „Ich bin Luca. Luca 2585 aus dem linken Flügel im Haus.“ Er räusperte sich. Nach all den Tagen im Wald, seit seiner Flucht, war seine Stimme ein wenig eingerostet.

Das Mädchen wurde blass. „Aus dem Haus? DEM Haus? Du bist einer von den Maschinen?“ Ungläubig starrte sie ihn an. Auch Luca staunte. Ein echter Mensch. Nun ja, ein junger, nicht ganz so schlauer wie er, schließlich war er mit dieser supertollen Maschinen-Intelligenz ausgestattet.

Doch schien die hier zu versagen. Er fand kaum Wörter, sein Inneres war wie ein großes Chaos, das er nicht sortiert bekam. Dieses Mädchen, das da vor ihm stand, war so lebendig, so schön, so weich, und vor allem: einfach nur da. Sie strahlte eine Ruhe aus, die ihn zugleich ansteckte und verwirrte.

Sie schien seine Verwirrung und Sprachlosigkeit zu bemerken.

„Hast du noch nie eine von uns gesehen? Ich bin ein Menschenkind, genau wie du, nur dass man dich als kleines Kind den Maschinen zur Obhut und Erziehung gegeben hat. Mein Name ist Marei.“ In einer fließenden Bewegung ließ sie sich in das inzwischen von der Morgensonne getrocknete Gras sinken und bedeutete ihm, sich neben sie zu setzen.

Er tat es, suchte jedoch noch immer in seinem Kopf nach dem passenden Raster, in dem er sie zu verorten hoffte.

„Schau mich an“, sagte sie leise zu ihm. Er schaute. Doch suchte er noch immer in seinem Kopf… „Nein, richtig. Schau mich an, schalt‘ mal dein Hirn aus. Einfach mal kurz nur schauen.“ Langsam ließ er seinen Kopf Kopf sein, ließ alles fahren, woran er sich eben noch beinahe verzweifelt geklammert hatte.

„Und jetzt hör‘ mir bitte zu. Ihr seid als kleine Kinder euren Eltern weggenommen worden. Es war die einzige Chance der Menschheit, nicht von den Maschinen zerstört zu werden. Eure Eltern litten sehr, wie du dir vorstellen kannst. Noch immer müssen wir jedes Jahr 128 Kleinkinder den Maschinen geben, um sie großzuziehen. So wahren wir den Frieden.“ Sie ließ ihren Blick über die Bäume schweifen. Über der Wiese stiegen feine Nebelschwaden in die Luft und das Sonnenlicht floss hell und zart hindurch. „Doch auch wir Menschen haben uns verändert. Inzwischen wissen wir, dass unser Verstand nicht alles ist. Viele von uns sind endlich aufgewacht.“ Luca blickte sie verständnislos an.

„Weißt du“, fuhr sie fort, „die Maschinen sind nur das Abbild eines Systems in unseren Köpfen, das auf Funktionieren anstelle von Lebendigkeit ausgerichtet ist. Lange bevor die Maschinen kleine Kinder dazu erzogen, zu funktionieren, haben wir uns selbst dazu erzogen. Wir lebten in Systemen, in denen wir funktionierten, anstatt wirklich Menschen zu sein. Mit allem, was dazu gehört.“

Marei hielt inne. Luca blickte sie an und sah in ihren Augen eine Weite, die ihn an den Sternenhimmel der letzten Nächte erinnerte. Ein tiefes Ziehen breitete sich in seinem Herzen aus. Und während Mareis Worten war in ihm so viel Gefühl gewesen – Traurigkeit, als sie von den Eltern erzählt hatte, die ihre Kinder abgeben mussten. Und diese unendliche Sehnsucht, wie ein warmes Glimmen in seiner Brust, das ihn in eine Zeit drängte, die lange vor seiner bewussten Wahrnehmung begonnen hatte.

Marei schien ein feines Gespür zu haben für das, was in ihm vorging. Sie legte ihre Hand zärtlich auf seine Wange und sah ihn mitfühlend an. Es war, als schein sie zu spüren, welchen Mangel, welch unaussprechliches Sehnen er die ganze Zeit über gehabt haben musste. Er schloss für einen kurzen Moment die Augen. Wie sich das anfühlte, eine warme Menschenhand, die so leicht auf seiner Wange lag!

Dann fragte er mit belegter Stimme: „Und was ist mit den Maschinen? Spielen sie in eurem Leben gar keine Rolle?“ – „Doch“, antwortete sie, indem sie ihre Hand zurückzog, „sie sind fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Doch bestimmen sie unser Leben nicht. Sie führen all die monotonen Arbeiten aus, die eben erledigt werden müssen und für die man nichts braucht als die Fähigkeit, zu funktionieren. Sie arbeiten bei der Müllabfuhr, in Fabriken und so weiter. Dafür haben wir Menschen Zeit. Zeit für Beziehungen, Zeit zu fühlen, zu leben, Zeit für Kreativität. Zeit, einfach zu sein.“

Luca schwieg.

Mit einem Mal wollte er nichts sehnlicher, als diese menschliche Welt zu sehen. Er wollte fühlen, leben, lieben, sein. Mensch sein.

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