Ein Campingplatz in Italien. Der Himmel sternklar, ich sitze bei einem Glas Wein am See und unterhalte mich mit einer Urlaubsbekanntschaft. Gerade erzählt sie mir, wie froh sie ist, dass sie so früh nach der Geburt ihres einzigen Kindes wieder arbeiten gehen musste, so war sie gezwungen, loszulassen. Das Kind war damals knapp ein Jahr alt. Sie war in der Folge voll berufstätig, ihr Mann managte Haus und Kind.
Ich muss schlucken. Erinnert mich das doch an meine Identitätsfindung als junge Mutter. Auch ich hatte das Gefühl, möglichst schnell loslassen zu müssen. Und kämpfte dabei gegen mein eigenes Gefühl, das ganz klar sagte: möglichst viel Zeit mit diesem kleinen Wesen verbringen. Es kennenlernen, es halten, da sein. Ganz nah.
Ich hatte in dieser Zeit eine gute Therapeutin, die mich darin bestärkte, auf mein Gefühl zu hören. Die mich darin bestärkte, da zu sein, mein Kind zu stillen, ihm alles zu geben, was es brauchte; während nichts dagegen sprach, dass der Vater auch da ist, jedoch ich als Mutter nicht mein Kind ganztags abgeben musste, nur weil der öffentliche Diskurs die Beteiligung der Väter für wichtig hielt. Wenn die Mutter gegen ihren Willen das Kind abgibt, so kommt das fürs Kind einer Ablehnung gleich.
Ja, wenn ich gewollt hätte, dann hätte ich arbeiten gehen können! Denn was sich für mich gut anfühlt, das kommt ja auch beim Kind an. Aber wenn ich, aus einem gefühlten Druck der Gesellschaft heraus, mein Kind so früh so lange nicht gesehen hätte – das hätte etwas mit mir gemacht. Vermutlich wäre ich härter geworden. Hätte mir auch irgendwann gesagt, dass es gut ist, dass ich loslassen musste.
Aber kann ich überhaupt etwas loslassen, was ich gar nicht hatte? Für mich war und ist die enge Bindung zu meinen Kindern extrem wichtig. Doch das, was man von außen gern als „Gluckenmama“ abtut, hat für mich eine wichtige Funktion! Denn ohne diese enge Bindung, die mir erst erlaubt, mein Kind zu kennen, kann ich doch keine Entscheidungen fällen für mein Kind.
Da ist etwas in mir gewachsen, über Monate Teil meines Körpers gewesen. Und wird sich genauso langsam von mir weg bewegen, wenn die Zeit dafür reif ist.
Ich kann nichts loslassen, was ich vorher nicht hatte. Ich kann kein Kind in die Welt wirklich loslassen, zu dem ich keine Beziehung habe. Denn erst wenn ich etwas halte, nah an mir dran gehabt habe, dann kann ich es auch loslassen. Und eben erst, wenn mein Gefühl sagt: jetzt. Jetzt ist der Moment. Und dieses Gefühl habe ich erst, wenn ich mein Kind kenne. Wenn es eine stabile Beziehung zu mir hat, die erlaubt, sich abzugrenzen und seinen eigenen Weg zu gehen – in Loslösung und Ablösung von meiner Linie. Erst das definierte Gehaltensein kann einen wirklichen Ausbruch und Abgrenzung von der Mutter nach sich ziehen. Vielleicht zeigt sich in diesem Ausbruch die Rolle des Vaters stärker: als Wegbereiter in die Welt hinaus. Als Alternative zum Gehaltensein bei der Mutter: das Weggehen.
Nunja, die Kleinkindzeit ist vorbei. Meine Kinder sind jetzt ziemlich groß. Und sagen Dinge wie: Mama, entspann dich mal. Oder: Mach nicht so ’nen Stress. Oder wollen ohne mich zum Sportgucken.
Dann denke ich: Ja, die Kuschelzeiten sind vorbei. Meine Kinder brauchen mich nicht mehr so sehr wie früher, sie brauchen mich immer weniger. Das ist auch traurig. Aber was ich hatte, hatte ich: Als sie mich brauchten, da war ich da. Und bin es noch, so wie sie es brauchen. Inzwischen eben oft als Gegenpol, als Abgrenzungshalt. Und diese Abgrenzung geht eben nur, weil ich da war, ganz nah. Weil es etwas gibt, wovon sie sich abgrenzen können.
Loslassen ist eben nicht ein Akt, sondern ein Prozess. Und mit Kindern immer wieder ein mehr oder weniger – ein langsamer Prozess. Langsam und leise, gleich Ebbe und Flut. Denn manchmal, da brauchen sie Mama doch noch sehr.