Silvester oder die radikale Hoffnung

Silvester, Punkt Mitternacht. Wir stehen im erweiterten Familienkreis auf einem Hügel mit toller Aussicht auf das Gelichter um uns herum.

Um mich her hebt das Feuerwerk an, Raketen malen funkelbunte Bilder an den nachtschwarzem Himmel. Eins jagt das andere, und ein Zischen und Wummern lässt die Luft vibrieren.
Man begrüßt mit Feuerwerk, mit Pauken und Trompeten, das neue Jahr. Das sieht schon schön aus, ich kann aber in diesem Moment nicht umhin, an den Krieg zu denken, der sich just vor Europas Haustür abspielt. Und der im Zweifel nicht viel anders klingt als das Geböller um mich herum.

Und ich frage mich, wie Menschen in Zeiten wie diesen euphorisch, froh und hoffnungsvoll das neue Jahr begrüßen können? Mit Geknalle, das die Umwelt strapaziert, die wir doch eigentlich schützen wollen? In Zeiten, in denen wir nicht so sicher sind, wie lange die Erde uns in dieser Form noch aushält.

Vielleicht bin ich zu sensibel. Bereits als Kind war für mich Feuerwerk immer auch mit Bangigkeit verbunden. Ich sah die Raketen in die Luft fliegen und fragte mich, wie das für die Engel wohl sein mag.
Vielleicht verstehe ich es auch einfach nicht ganz. Vielleicht ist Silvester einfach eins dieser Rituale, die uns Halt geben sollen, und ein Zeichen der Hoffnung und Stabilität auch in düsteren Zeiten – Stabilität in eben dieser Form, mit Krach und Radau und Feuerwerk, weils eben immer schon so war. Etwas, was gleich bleibt – oder eben auch endlich wieder sein darf, nachdem Feuerwerk die letzten zwei Jahre großteils verboten war.

Ich für mein Teil finde es jedoch eher ungewöhnlich, wenn einen in Zeiten wie diesen nicht auch mal die Hoffnung verlässt. Wenn man angesichts dieser energiehungrigen und immer größer werdenden Menschheit und spürbaren Klimaveränderungen den Kopf nicht auch mal hängen lässt.

Ich habe mal ein Buch von Jonathan Lear* gelesen, er ist Philosoph und schreibt über die radikale Hoffnung. Radikale Hoffnung als Mittel, mit der eigenen Verwundbarkeit umzugehen, radikale Hoffnung als Antwort auf die Angst vor dem Auslöschen der eigenen Kultur. Radikale Hoffnung gegenüber der Angst, dass nichts mehr sein wird. Er spricht explizit über das Volk der Crow, die nach der letzten großen Schlacht bei Wounded Knee vor den Trümmern der eigenen Kultur standen. Und angesichts dieser Trümmer mit der Frage umzugehen hatten: wie weiterleben?

Ich denke, dass wir von diesem Konzept der radikalen Hoffnung auch etwas gebrauchen können. Vielleicht kann sie uns helfen, in eben dieser Zeit, in der man sich manchmal sagt: „egal, es geht sowieso alles den Bach runter“, eben nicht aufzugeben, sondern trotz oder genau wegen der anstehenden Veränderungen weiterzumachen. Weiter darauf zu achten, wie wir leben, weiter zu versuchen, so zu leben, dass die Erde uns eben doch noch ein Stück länger aushält. Mit unserem Wissen, dass natürlich alles irgendwann einmal ein Ende hat, trotzdem nichts unversucht zu lassen – mit Zwinkern im Auge und lachendem Herzen. Denn Verbissenheit hat noch keinem geholfen.

Meine Kinder kommentierten das Feuerwerk mit vielen schönen, frohen Worten. Sie freuten sich, wussten nicht wohin sie schauen sollten, vor lauter Schönheit am Nachthimmel. Freuten sich, dass dieser Moment endlich gekommen war, auf den sie so lange hingefiebert hatten.
Meine Tochter sagte dann, angesichts dieser Lichterpracht, aus vollem Herzen: „ich freu mich so aufs neue Jahr!“ Einfach so, ohne Grund. Weil für sie das Leben Freude ist, voller kleiner Wunder, die man bestaunen und entdecken kann. Und weil man kleine Wunder erwarten kann, weil es immer kleine Wunder gibt und, vermutlich auch, weil sie sich geborgen fühlt in dem, wie die Erwachsenen sich um die großen Sachen kümmern.

Vielleicht wäre das eine Art, wie man mit den Herausforderungen der Zukunft und des kommenden Jahres umgehen kann: obwohl wir wissen, dass es gerade vielleicht nicht bergauf geht, zu hoffen. Obwohl wir diese ganzen Erwachsenensorgen im Kopf haben, uns immer wieder des Moments im Hier und Jetzt und der kleinen Wunder bewusst zu werden, die unseren Alltag schön machen. Obwohl wir uns irgendeines Endes, irgendwann, gewahr sind, zu hoffen, zu leben. Wie ein Kind sich aufs neue Jahr freut: Einfach so und ohne Grund.

Ich denke, man kann diese Art der Hoffnung lernen. Das Wissen, dass es immer irgendwie weiter geht – und die Hoffnung, dass es neben all dem dunkelgrauen, nicht so schönen, das ja immer auch zum Leben dazu gehört, immer auch Lichtblicke und winzige Wunder geben wird. Und vielleicht bedeutet für manche Menschen genau das das Feuerwerk ins neue Jahr: das neue Jahr von vornherein als etwas zu begrüßen, was Neues bringt, Positives und Schönes. Mit Pauken und Trompeten und mit Krach und Radau. Was auch immer da kommt.

In diesem Sinne: auf ein gutes Jahr 2023 mit vielen kleinen Wundern und ganz viel Hoffnung!

*Jonathan Lear: Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung. Berlin 2021.

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